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Dragos ließ sein Handy zuschnappen und steckte es in die Tasche seiner Anzugjacke aus Kaschmir. Er starrte in den sternenklaren Himmel über einem Gewerbegebiet an der Interstate 90 in Albany, New York, und zischte einen derben Fluch. Wilhelm Roth reagierte nicht auf seine Anrufe.

Was hieß, dass Wilhelm Roth tot war.

Und dass Dragos' Kameras und Kommunikationssysteme in der Zentrale in Connecticut allesamt nicht mehr online waren, bedeutete, dass der Bunker wie geplant gesprengt worden war. Er konnte nur hoffen, dass es Roth gelungen war, zusammen mit dem hastig aufgegebenen Labor auch ein paar Ordensmitglieder in die Luft fliegen zu lassen.

Was Roth selbst anging, so war es Dragos ziemlich egal, ob sein deutscher Leutnant die Zerstörung des Labors überlebt hatte; eine neue rechte Hand zu finden, die seine Mission ausführte, war eine Sache von Minuten.

Und er hatte bereits eine gefunden.

Dragos entfernte sich von seiner Limousine, an deren Steuer ein Lakai saß, um die Arbeit von Roths Nachfolger zu inspizieren. Das Stammesmitglied der Zweiten Generation, das er von der Westküste hatte kommen lassen, überwachte den Umzug von Dragos' Vermögenswerten und Ausrüstung - eine Veränderung, die wegen der ärgerlichen und anhaltenden Einmischung des Ordens erforderlich geworden war.

Aber Dragos hätte es nicht so weit gebracht, wenn er nicht im Voraus einige Hindernisse bei der Durchführung seiner Operation mit einkalkuliert hätte. Er hatte schon vor Jahren alternative Lösungen gesucht und geschaffen, sodass es jetzt nur noch darum ging, die Teile, die er bereits im Spiel hatte, neu zu arrangieren. Der Orden hatte ihn einige Tage gekostet, höchstens ein paar Wochen. Dann war er wieder voll im Geschäft.

Mächtiger denn je.

Und unaufhaltbar, ganz gleich, was er an verstörenden Dingen in den Hexenaugen dieses hellseherischen Kindes vor vielen Wochen in Montreal gesehen hatte.

„Sind wir fertig zum Aufbruch?“, fragte er seinen Leutnant.

Der große Vampir nickte kurz. Er stand hinter einem von mehreren voll beladenen Sattelschleppern, die darauf warteten, aus dem Gewerbegebiet zu ihren jeweiligen Bestimmungsorten aufzubrechen. Die Doppeltür des Fahrzeugs, das dem Leutnant am nächsten stand, war einen Spalt geöffnet und gab den Blick auf die ängstlichen Gesichter der Stammesgefährtinnen frei, die aus ihren Zellen im Labor fortgeschafft worden waren, um woandershin transportiert zu werden. Sie hüteten sich, zu schreien oder einen Fluchtversuch zu unternehmen. Das Gewerbegebiet gehörte Dragos und wurde von Lakaien bewacht.

Außerdem würden sie mit den Ketten und Handschellen, die sie aneinanderfesselten, nicht weit kommen, selbst wenn sie so dumm waren, es zu versuchen.

„Mach zu und schaff sie hier weg“, sagte Dragos und beobachtete befriedigt, wie sein Leutnant die Türen zuschlug und die schweren Stahlriegel und Schlösser anbrachte. Ein kurzer Schlag auf das Heck des Lasters, und das Gefährt, ebenfalls mit einem von Dragos' Lakaien am Steuer, setzte sich in Bewegung.

Doch auf dem Hof warteten noch etliche weitere Fahrzeuge auf ihr Startsignal. Dragos ging an den Lastern vorüber, die seine viele Millionen Dollar teure, hochmoderne Laborausrüstung enthielten, den Blick auf den großen weißen Lkw gerichtet, der ganz am Ende der Warteschlange stand.

Es war ein Kühlcontainer mit Sonderausstattung für die empfindliche Fracht, die sediert darin eingesperrt war. Zwei Gen-Eins-Vampire befanden sich ebenfalls darin, um den Inhalt zu bewachen; zwei weitere würden vorn bei dem fahrenden Lakaien und bei Dragos' Assistenten von der Westküste sitzen, um zu gewährleisten, dass der Transport auf seinem Weg zum Verladebahnhof, der nächsten Station auf der langen Reise des Containers, nicht in unvermutete Schwierigkeiten geriet.

„Alles fertig, Sir.“

„Ausgezeichnet“, sagte Dragos. „Nehmen Sie Verbindung zu mir auf, sobald Sie für die letzte Etappe in Seattle eintreffen.“

„Jawohl, Sir.“

Dragos sah zu, wie sich die Lasterflotte in Bewegung setzte und vom Hof rollte.

Der Orden mochte seine Operation gestört haben, aber er war längst nicht außer Gefecht gesetzt.

Ein zuversichtliches Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, als Dragos zu seinem wartenden Wagen zurückging. Er kletterte auf den Rücksitz und wartete gelangweilt, bis der Fahrer die Tür hinter ihm geschlossen hatte und anschließend nach vorn hastete, um sich hinters Steuer zu klemmen.

Heute Nacht hatte er den Schlupfwinkel, der ihn so viel Mühe und Geld gekostet hatte, verloren. Doch Dragos zog es vor, das als einen notwendigen Schritt in der Entwicklung seiner Pläne zu betrachten. Jetzt würde er in eine neue Phase seiner Operation eintreten, und er konnte es kaum erwarten, damit anzufangen.

Er lehnte sich in dem weichen Ledersitz zurück und sah aus dem Rückfenster, wie Wolkenfetzen über den Mond jagten.

Während der ganzen Rückfahrt ins Hauptquartier des Ordens, die über drei Stunden dauerte, wachte Andreas nicht auf.

Und auch den ganzen nächsten Tag nicht.

Claire hörte Tess in einem Gespräch mit Gabrielle und Savannah das Wort „Koma“ verwenden, nachdem die drei Frauen am frühen Morgen sein Privatzimmer im Hauptquartier für ihn hergerichtet hatten. Sie konnte sich nicht vormachen, dass sie darüber nicht beunruhigt war, und ihre Angst wurde größer, je länger seine Bewusstlosigkeit anhielt.

Dieses lange, hilflose Warten war noch schlimmer, als ihn gegen seine Pyrokinese ankämpfen zu sehen.

Claire hielt seine Hand, während er reglos auf dem Bett lag. Sie wusste, er war da drinnen. Sie konnte fühlen, wie sein Blut unter seiner Haut pulsierte, und sah das gelegentliche Flattern seiner geschlossenen Lider, wenn sie mit ihm sprach.

„Brauchst du noch irgendwas?“, fragte Tess leise und trocknete sich die Hände mit einem Papierhandtuch aus dem Badezimmer ab. Dantes Stammesgefährtin war ausgebildete Tierärztin und hatte darüber hinaus eine besondere übersinnliche Heilgabe besessen, die durch ihre Schwangerschaft jedoch blockiert wurde. Jetzt legte sie ihre Hand sanft auf Claires und schenkte ihr ein freundliches, mitfühlendes Lächeln. „Du solltest wirklich was essen.

Und dich ein wenig ausruhen.“

„Ich weiß“, erwiderte Claire und sah zu dem Tablett mit unangetastetem Essen auf dem Rolltischchen, das aus der Krankenstation stammte und nun neben dem Bett stand. „Alles okay. Ich werde etwas später etwas essen. Eigentlich habe ich keinen Hunger. Ich möchte einfach noch ein wenig bei ihm sitzen.“

Tess wirkte nicht überzeugt. „Ich komme in ein paar Stunden wieder und schaue nach euch.

Versprich mir, dass dieses Sandwich da dann nicht mehr auf dem Teller liegt.“

Claire lächelte nur, mit einer Zuversicht, die sie nicht empfand. „Bitte mach dir um mich keine Sorgen. Mir geht's gut.“

Tess nickte schwach. „Und sag Bescheid, wenn sich bei ihm irgendetwas ändert, ja? Alle denken jetzt an euch und beten für euch, Claire.“

„Danke“, murmelte sie, gerührt über die Freundlichkeit, die ihr alle im Hauptquartier entgegenbrachten. Sie liebten Andreas wie einen der Ihren, behandelten ihn wie einen Angehörigen, und dafür liebte sie sie alle.

„Also, bis in ein paar Stunden“, sagte Tess und schloss leise die Tür hinter sich.

Claire drehte sich wieder zu Andreas um, streichelte ihm über die Stirn und strich ihm die zerzausten dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht.

Sie betrachtete ihn und fragte sich, wo er in seinem tiefen, schockbedingten Schlaf gerade war. Und wann - und ob - er die Kraft finden würde, zu ihr zurückzukehren.

„Oh Andre“, flüsterte sie und starrte in das stolze, gut aussehende Gesicht, das sie nun schon so lange Zeit liebte. Sie legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn, unfähig, gegen die Träne anzukämpfen, die ihr über die Wange rollte, als sein Mund sanft und warm, aber reaktionslos gegen ihren drückte.

Claire legte sich neben ihn aufs Bett, sie musste ihm einfach näher sein. Sie streckte sich neben ihm aus, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und legte die Hand auf sein Herz, das gleichmäßig in seinem Brustkorb schlug. Dann schloss sie die Augen und ließ ihre Gedanken mit dem stetigen Pulsschlag davontreiben.

Andreas lebte. Solange sie ihn berühren, ihn riechen konnte, würde sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass er irgendwann einmal wieder bei ihr sein würde.

Und wenn er dazu nicht bereit war, würde sie eben zu ihm gehen.

„Dieses Mal für immer“, murmelte sie. Sie ließ die Augen zufallen und versuchte, ihn in der Traumwelt ausfindig zu machen.

Er war nicht schwer zu finden. Claire betrat eine öde, dunkle Leere, angezogen vom Schein eines Feuers, das in der Entfernung brannte. Sie war allein und nackt und tappte barfuß über einen kalten, dunklen Steinweg, der sich unendliche Meilen hinzuziehen schien... bis zu jener Stelle, an der in weiter Ferne orangefarbene Flammen tanzten.

Dort war auch Andreas.

Claire konnte nur die Umrisse einer großen männlichen Gestalt ausmachen, die vor einer gewaltigen tosenden Feuerwand auf dem Boden lag.

Er war ebenfalls nackt und lag ausgestreckt auf der Seite, wie auf dem Waldboden, nachdem Renata ihn in Bewusstlosigkeit versetzt hatte.

Claire ging näher heran und bemerkte erst jetzt, dass der schwarze Stein unter ihren Füßen lediglich einen schmalen Streifen festen Untergrund bildete - ein trügerischer Weg, nur etwa einen Meter breit.

Dieser Pfad aus dunklem Stein schwebte über einem Meer der Dunkelheit, einem Abgrund, in dessen innerstem Kern es brannte wie in den tiefsten Höllengründen.

Und ganz am Ende dieses langen Wegs aus kaltem Gestein lag Andreas.

„Oh Gott“, flüsterte sie, während sie sich näherte und erkannte, wie gefährlich seine Lage tatsächlich war. Eine unbedachte Bewegung, ein unbewusstes Zucken, und er würde über die Kante fallen und in das Inferno stürzen, das unter ihm tobte.

Claire näherte sich ihm vorsichtig und ließ sich neben ihm auf der jäh abfallenden Steinkante nieder.

Weil sie Angst hatte, ihn zu abrupt aufzuwecken, strich sie ihm sanft über die Stirn. Er rührte sich nicht.

Seine Haut war zu kalt, s eine Atmung verlangsamt und schläfrig. Er schlief weiter, ohne zu ahnen, dass sie bei ihm war.

„Ist schon in Ordnung, Andre“, sagte sie zu ihm, als sie sich langsam auf der kalten, schwarzen Oberfläche der Kante ausstreckte. Sie rollte sich hinter ihm zusammen, schlang ihren Arm um ihn, um ihn am Hinunterfallen zu hindern, und schmiegte sich an ihn, um ihm etwas von ihrer Wärme abzugeben.

„Wir schlafen hier ein Weilchen zusammen. Ich warte mit dir, bis du so weit bist, zu mir zurückzukommen.“

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